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Jugendstil

Reportagen

EntdeckungsTouren zum Jugendstil in Wiesbaden werden dieses Jahr durch die Tourist Infrmation angeboten


Den Jugenstil in Wiesbaden entdecken


Als Friedrich von Thiersch anlässlich der Einweihung des neuen Wiesbadener Kur1907 den Kaiser durch seinen Prachtbau führte, soll dieser sich geweigert haben, den Muschelzu betreten. Weniger die Dar-
stellungen spärlich bekleideter Damen störten Wilhelm II., vielmehr die Tatsache, dass der Maler und Graphiker Fritz Erler die Wandbilder geschaffen hatte. Erler gehörte zum Mitarbeiterstab der Zeitschrift „Jugend“, jener in München erscheinenden Zeitschrift, der der neue Stil, der in Frankreich als „Art Nou-
veau“ und in Wien als „Sezession“ bezeichnet wird, in Deutschland seinen Namen verdankt. Um einen Eklat zu vermeiden, musste Erler von der Gästeliste gestrichen werden; eine bessere Publicity für den Künstler, der später Nazi-Größen porträtierte, lässt sich kaum denken.

So offen Wilhelm II. dem technischen und wissen-chaftlichen Fortschritt gegenüberstand – in der Kunst verband er eine extrem konservative Haltung mit einem Glauben an absolute ästhetische Wahrheiten, die es zu verteidigen galt. Die Kunst, so der Kaiser in einer Rede, solle „mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wiederaufzurichten. Uns, dem deutschen Volke, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger verlorengegangen sind“. Weil die Kunst sys-
temstabilisierend wirken sollte, mussten systemkritische Tendenzen abgewehrt werden, so die „Rinnstein-
kunst“ der Naturalisten auf dem Theater ebenso wie die moderne Kunst derjenigen bildenden Künstler, deren Sprachrohr die Zeitschrift „Jugend“ war.

Titelblatt der Zeitschiift "Jugend" - Fritz Erler

Der Jugendstil war eine Protestbewegung. Junge Künstler forderten eine Suche nach neuen Gestal-
tungsmöglichkeiten in Architektur und angewandter Kunst und die Abkehr von den historischen Formen. Ihnen ging es darum, einen „modernen“ Stil zu find-
en, der der eigenen Zeit entsprach und für den die Natur Anregungen geben sollte. Sie propagierten ein neues Verhältnis zum Licht, zur Natur und zum menschlichen Körper und opponierten gegen die ver-
krusteten gesellschaftlichen Strukturen. Sie forder-
ten nicht weniger als eine umfassende Reform des gesamten Lebens mit den Mitteln der Kunst. Kunst und Leben sollten verschmolzen und die Kunst in das Alltägliche einbezogen werden im Sinne einer umfas-
senden künstlerischen Neugestaltung aller alltäg-
lichen Dinge. Sie wehrten sich gegen die seelenlose industrielle Massenproduktion und forderten eine Wiederbelebung handwerklicher Produktionsweisen, wobei diese neue Kunst allen zugutekommen sollte.

Der hessische Großherzog Ernst Ludwig

Beim hessischen Großherzog Ernst Ludwig fielen diese Ansätze auf fruchtbaren Boden. Er war der Sohn einer englischen Mutter und mit den künst-
lerischen Entwicklungen in England vertraut; führende Vertreter der englischen Arts-and-Craft-Bewegung beauftragte er mit der Neugestaltung privater Räume im Darmstädter Neuen Palais. 1899 berief er Künstler, die frei von finanziellen Sorgen auf der Mathildenhöhe künstlerisch arbeiten sollten, darunter Joseph Maria Olbrich aus Wien und den später in Wiesbaden tätigen Hans Christiansen. Im Mittelpunkt der 1901 veranstalteten Ausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst“ standen die künstlerisch durchgestalteten Häuser der Künstler. Finanziell war die Ausstellung ein Desaster und die Kritik beanstandete, dass diese „Luxuskunst“ nicht in die Breite wirken könne. Dennoch war die Ausstellung das Ereignis, das ein Tor öffnete hin zu einem neuen Kunstverständnis jenseits des Historismus.

Grandiose Platzwand am Gutenbergplatz

Das eher konservative Wiesbaden blieb dem Histo-
rismus verhaftet und dennoch fiel der Jugendstil auf fruchtbaren Boden, wenn auch in einer spezifischen Wiesbadener Form. Die Stadt erlebte seit der Mitte der 1880er Jahre einen beispiellosen Boom und verdoppelte ihre Bevölkerung binnen 20 Jahren auf 110.000 Einwohner. Die Ringstraße wurde realisiert; jenseits der Ringstraße entstanden neue Wohnge-
biete. Ebenso dehnten sich die Villengebiete aus und die bis dahin noch eher bäuerlich und kleinstädtisch geprägte Innenstadt erfuhr eine fast vollständige Umgestaltung. Während für die großen Prachtbauten dieser Zeit vielfach auswärtige Koryphäen herange-
zogen wurden, baute die Vielzahl der einheimischen ArHaus um Haus, immer mit dem Anspruch, indivi-
duelle Lösungen zu finden und keine Monotonie entstehen zu lassen. Dabei war ihnen das neue Formenrepertoire höchst willkommen. Anders als in Darmstadt beabsichtigt, entwickelten sie weder neue Villen- noch Wohnhaustypen; schon aus ökonomischen Gründen behielten sie die bewährten Strukturen bei und nahmen die neuen Tendenzen vor allem zur Gestaltung der Fassaden auf.

Frauensteiner Kinder standen Modell für die Engel

Ein Beispiel ist das ehem. Hotel „Bellevue“ in der Wilhelmstraße 38. Der 1904 von Fritz Hildner errich-
tete Neubau ersetzte einen Vorgänger, der gerade einmal 25 Jahre zuvor gebaut worden war. Es ent-
stand ein Bau, der wohl den traditionellen Fassaden-
aufbau beibehielt, sich aber in den oberen Bereichen von der üppigen neobarocken Fassadendekoration löste und unter den abschließenden Segmentbögen bizarre Fensterformate und Dekorationen aufweist. Derselbe Hildner, der für den jüdischen Kaufmann Samuel Israel in der Langgasse 19 ein Wohn- und Geschäftshaus in schönsten Jugendstilformen baute, hat sich bei späteren Projekten dem strengeren Neoklassizismus zugewendet, ein typisches Wies-
badener Phänomen.

Das "Weiße Haus" in der Bingertstraße

Das wegen seiner hellen Fassadenverkleidung so genannte „Weiße Haus“ in der Bingertstraße 10 war für Gottfried Kiesow der einzige wirkliche Jugend-
stilbau in Wiesbaden, obwohl das Haus noch ganz traditionell gedacht ist. Die Fassadengestaltung mit ihren floralen Motiven und den grotesken Masken dagegen ist feinster Jugendstil französisch-belgi-
scher Prägung. Dabei sind für die Gestaltung des Hauses immer auch die Wünsche des Bauherrn maßgebend; das Haus in der Bingertstraße baute der Architekt Josef Beitscher für sich selbst. Das wenig früher entstandene pittoreske Eckhaus Mühlgasse 5 mit seiner malerisch-altertümelnden Fassade und einer Vielzahl von Erkern, Balkonen und Türmchen entwarf er für den Magistratssekretär Georg Schardt in ganz anderer Weise; der Auftraggeber wollte es wohl so. Für sein eigenes Wohnhaus im Dambachtal 20, das der Jugendstil-Maler Hans Christiansen mitgestaltete, näherte sich der Architekt Friedrich Werz sehr dem Jugendstil an; seinen erfolgreichen Entwurf für das Landeshaus am Kaiser-Friedrich-Ring orientierte er an barocken Schlossbauten, weil es sich um einen preußischen Regierungsbau handelte,

Treppenhaus im "Pariser Hof"

Am ausgeprägtesten findet sich der Jugendstil in Wiesbaden in den nach 1900 entstandenen neuen Stadtvierteln jenseits des Kaiser-Friedrich-Rings, dem Rheingauviertel und dem Dichterviertel. Aber auch in der Wiesbadener Innenstadt hat der Jugend-
stil bei fast jedem Bauvorhaben, das nach 1900 entstand, seine Spuren hinterlassen. Salopp gesagt: die Architekten wollten auch in Wiesbaden moderne Häuser bauen, andererseits aber den Kaiser nicht vergrätzen. Der Wiesbadener Jugendstil drängt sich nicht auf; er will gesucht und entdeckt werden. Historische Formen, die beim Hotel „Bellevue“ dem Barock, beim „Goldenen Brunnen“ in der Goldgasse der Renaissance und bei einem Geschäftshaus in Langgasse 23 gar der Gotik entlehnt sind, verbinden sich mit Jugendstilornamentik, wenn man den Blick nach oben richtet, sich die Details genauer ansieht oder wie beim „Pariser Hof“ in der Spiegelgasse 9 oder beim Kaiser-Friedrich-Bad in die Häuser hinein-
geht.

Geschäftshaus in der Langgasse

Ein neues Verhältnis zum Tageslicht, das man zuvor weitgehend ausgesperrt hatte, bewirkte größere und variierende Fensterformen mit zumeist versprossten Oberlichtern, die aber immer noch in Achsen ange-
ordnet wurden. Ein neues Verhältnis zur umgeben-
den Natur bewirkte in den Villengebieten eine Viel-
zahl von Balkonen, in den geschlossen bebauten Wohnzumindest Vorrichtungen zum Anbringen von Blumenkästen an Fenstern und Balkonen. In der Abkehr vom additiven Prinzip des Historismus, das die diversen architektonischen Motive wie Erker, Balkone oder Vorbauten dem Grundkörper quasi „angeklebt“ hatte, strebten die Architekten nach organischen Verbindungen: die Erker wurden weniger ausladend und schienen quasi aus der Wand heraus-
zuwachsen. Der Bauschmuck auf den nun eher flä-
chig gehaltenen Fassaden wurde spärlicher, verlor zunehmend an Plastizität und nahm „teigig weiche“ Formen an.

Das ehem. "Rheingold" in der Saalgasse

Statt flächendeckend die Fassade zu bedecken, konzentrierte sich die Ornamentik mit ihren vielfach geschwungenen Linien auf einzelne Bereiche wie die Fensterachsen oder die Erker. Es lohnt sich auf die Details zu achten, die zumeist von der Sezession beeinflussten geometrischen Balkongeländer, die geschmiedeten Eingangstüren, die variierenden Fensterformate mit ihren Kunstverglasungen und Versprossungen oder die Masken in den oberen Regionen. Und es lohnt sich sehr, unter diesen Aspekten auch in Wiesbaden, der „Stadt des Historismus“, auf eine Entdeckungstour zu gehen – entweder auf eigene Faust oder ab Herbst als Teilnehmer an einem neu konzipierten Stadtrund-
gang, der dem Jugendstil in Wiesbaden nachspürt und dabei reichlich fündig wird.

Rainer Niebergall


Abgedruckt in FRIZZ DAS MAGAZIN für Mainz, Wiesbaden und Umgebung, September 2019

Nachdruck, auch auszugsweise, nach Absprache und mit schriftlicher Genehmigung.


Rainer Niebergall – KulTour & Mehr
Stadtführungen, Stadtgeschichte, Planung, Organisation & Management

Mitglied im Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e. V.
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