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Das Bergkirchenviertel

Reportagen

Nächste EntdeckungsTour
im Bergkirchenviertel
am 27. Juli 2022


Die Rückseite der Weltkurstadt - Das Bergkirchenviertel

Das Gasthaus zum Gutenberg in der Nerostraße (Sammlung Schaller)

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die hessische Landeshauptstadt glänzt mit ihren noblen Villenvierteln, ihren öffentlichen Prachtbauten, den Grand Hotels und großbürgerlichen Wohnpalästen der Belle Epoque. Arbeiterviertel in der vornehmen Wohnstadt im Grünen, in der einst die meisten Millionäre Deutschlands lebten? Ja, aber bitte unauffällig.

1806 wurden die nassauischen Fürstentümer zum Herzogtum erhoben, Wiesbaden Sitz der Regierung. Das Ackerbürgerstädten mit seinen 3000 Seelen genoss einige Bedeutung als Badeort, war aber ländlich geprägt und in keiner Weise auf seine neue Eigenschaft vorbereitet. Regierung und Architekten verwandelten Wiesbaden in eine Großbaustelle. Dazu brauchten sie Arbeitskräfte, und diese brauchten Wohnungen. Ebenso die dienstbaren Geister, die für den Komfort und das Wohlergehen die vornehmen Herrschaften sorgten.

Wie eine Glucke auf ihrem Nest - die Bergkirche

Während sich die Herrschaften im klassizistischen Süden ansiedelten, wurden den Handwerksgesellen, Dienstleuten und Tagelöhnern Grundstücke im sumpfigen Nordwesten zugewiesen; hier glaubte man die „einstöckigen Wohnhäuschen am schicklichsten ohne den äußeren Anstand zu beleidigen“ bauen zu können. Dass der alte Promenadenweg die 1809 angelegte Nerostraße querte – nicht schlimm: „diese kleinen Gebäude müssen nur einige Regelmäßigkeit und ländliche Ansicht erhalten, so erscheinen sie wie Gartenhäuser und gewähren den um die Stadt Wandelnden einen angenehmen Anblick“.

Schon der klassizistische Stadtplaner Christian Zais sah die Dinge anders und wollte keinem Kurgast diesen Blick zumuten. Geschickt ummantelte er die Nerostraße und die angrenzenden Gebiete durch sein Fünfeck und reservierte den hügeligen Norden der Kurstadt für Handwerker und hilfreiche Geister, sorgsam dem Gästeblick entzogen.

Rund um die 1876-79 von Johannes Otzen erbaute Bergkirche entstand ein kleinbürgerlich geprägtes Quartier mit eigener Infrastruktur, eigenem Pfarrer und eigener Schule. Die „Katzelöcher“ bildeten ein eigenes Völkchen; von hier aus ging man „in die Stadt“. Dass die bestehenden Schulen und Kirchen die gewachsene Bevölkerung nicht mehr fassen konnte, war nur eine Seite der Medaille; es seien eben, so der Stadtpfarrer Wilhelmi, „meist Tagelöhner und Handwerksgehülfen“, die „nach ihrem eigenthümlichen Bedürfnis und ihrer Auffassungsfähigkeit anders angesprochen werden müssen als die mehr aus Gebildeten bestehende Versammlung in der Stadtkirche“. Nein, diese Leute sollten unter sich bleiben …

Eine geniale Geschäftsidee - der Tattersall

Ende des 19. Jahrhunderts ersetzte der wilhelminische Mietshausbau zunehmend die kleineren Wohnhäuser; die Fassaden imitierten vergröbert den Schmuck der gehobenen Stadtviertel, ohne den äußeren Anspruch im Inneren einzulösen. In die Hinterhöfe kam weder Licht noch Luft, auf jedem Grundstück lebten bis zu 40 Personen in Kleinstwohnungen ohne jeden Komfort. Die Mieten waren gering, dafür unterblieb auch jede Modernisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der das Bergkirchenviertel weitgehend verschonte, war die Substanz völlig marode, 84% der Wohnungen hatten keine Zentralheizung, 71% keine Toiletten. Für die Kommunalpolitiker und Stadtplaner der Wirtschaftswunderjahre ein Unding.

Der Hirschgraben mit Blick auf den Tattersall

Anfang der 1960er Jahre geriet die ausgedehnte Altbausubstanz der Innenstadt ins Visier der Stadtplanung. Der Magistrat berief den renommierten Städteplaner Ernst May zum Planungsbeauftragten, der 1963 sein Konzept für „das neue Wiesbaden“ vorstellte. Die Wiesbadener begegnen May, dessen 125. Geburtstag 2011 begangen wurde, mit gemischten Gefühlen. Flächensanierung und Totalabriss lautete seine Empfehlung. Um die Bergkirche als „Traditionsinsel“ plante er Hochhäuser und Wohnanlagen, die jeder DDR-Stadtrandsiedlung alle Ehre gemacht hätten.

Als der Leiter des Stadtplanungsamtes das Viertel gar als „Slum“ bezeichnete, war kein Halten mehr. Bergkirchenpfarrer Walter Hunzinger organisierte den Widerstand der Bewohner, Hausbesitzer und Gewerbetreibenden. Die Abrisspläne wurden 1971 gestoppt zugunsten einer sozialverträglichen Altstadtsanierung, die überregional Maßstäbe setzte. Das „Katzeloch“, das man erst jetzt als Bergkirchenviertel bezeichnete, wurde das größte Sanierungsgebiet der Republik – die Sanierung ist immer noch nicht abgeschlossen.

Nicht jede Entscheidung war richtig. Die Bebauung wurde aufgelockert, Höfe entkernt und begrünt. Erhaltenswerte Bausubstanz sollte saniert, Marodes abgerissen und in Anlehnung an die vorhandene Bebauung neu errichtet werden; damit wurden die Überreste der ursprünglichen Bebauung geopfert. Um das Völkchen im Quartier zu halten, sollten die Mieten niedrig gehalten werden; 50% der Immobilien wurde von der öffentlichen Hand übernommen, privates Kapital war unerwünscht.

Auf Entdeckungstour im Viertel (Quelle: Tagblatt/Müller)

Nur ein Teil der Katzelöcher kehrte in ihre sanierten Häuser zurück. Rund 6600 Menschen leben heute im Quartier, gut die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. Trotz anhaltender Klagen erscheint es übertrieben, von einem sozialen Brennpunkt zu sprechen, aber ganz zweifelsfrei hat das Viertel seinen Charakter verändert. Die alten Quartierkneipen sind verschwunden, und der sprichwörtliche Gemeinschaftssinn ist verloren gegangen. Mangels Interesse wurde die „Katzelöcher Kerb“ in der Lehrstraße aufgegeben, die „Bürgergemeinde Katzeloch“ löste sich 2008 auf, nachdem sie nur noch 40 Mitglieder zählte und diese zur Hälfte nicht mehr im Quartier wohnten.

Mit der Neugestaltung des Platzes vor der Anton-Gruner-Schule wird die Sanierung voraussichtlich 2012 abgeschlossen sein. Aller Klagen zum Trotz – was erreicht wurde, kann sich sehen lassen. Das Bergkirchenviertel war und ist anders, aber das macht seinen Reiz und sein Flair aus. Wovon man sich bei einem Spaziergang durch das Viertel überzeugen kann.

Rainer Niebergall


Mit leichten Kürzungen abgedruckt in FRIZZ DAS MAGAZIN für Mainz, Wiesbaden und Umgebung, Januar 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nach Absprache und mit schriftlicher Genehmigung.


Rainer Niebergall – KulTour & Mehr
Stadtführungen, Stadtgeschichte, Planung, Organisation & Management

Mitglied im Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e. V.
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