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Tagblatt, 18.07.2016

Presse-Echo



Anekdötchen als
Salz in der Suppe


Der Historiker
Rainer Niebergall begeistert mit EntdeckungsTouren durch seine Heimatstadt

Von Elke Baade


Wiesbadener Kurier/Tagblatt, 18.07.2016

Vielleicht liegt es an der Kindheit in Erbenheim mit dem Duft der elter-
lichen Bäckerei, der Lektüre des Ortshistorikers Emil Krag und den Hei-
matkunde-Rundgängen der 3. Schulklasse mit „Fräulein Knoll“, dass Rainer Niebergall bodenständig geblieben ist und sich nicht mit seinem Wissen über andere erhebt? Bei seinen Führungen durch die Stadt erzählt er so lebendig aus vergangenen Zeiten, als wäre er selbst dabei gewesen und auch seine Gäste können sich mittendrin fühlen.

Zwar hat er in seinem Kopf ein dickes Geschichtslexikon abgespei-
chert, aber Zahlen und Namen sind eben nicht alles. Sein Prinzip: „Ich will nicht belehren, sondern Zusammenhänge verständlich machen. Und schöne alte Häuser allein reichen nicht, ein roter Faden muss da sein.“

Den nehmen die Teilnehmer seiner Touren gern auf, lauschen ihm fasziniert und amüsieren sich über so manches Anekdötchen, das der 55-Jährige einstreut: „Die sind das Salz in der Suppe, es darf ja auch gelacht werden.“ Wenn wiederum er von Teilnehmern Neues erfährt, greift er das freudig auf, so wie die Zeit des Schlagersängers Gus Backus („Der Mann im Mond“, „Da sprach der alte Häuptling der Indianer“) im Westend. Und wie geht er mit unvermeidlichen Besser-
wissern um? Hat er selten, „ansonsten regeln giftige Blicke und bissige Kommentare aus der Gruppe das“, verrät er schmunzelnd.


Das Wissenschaftliche reizt mehr als die Pädagogik

Niebergall hat in Mainz Geschichte und Germanistik studiert, zunächst auf Lehramt, aber bald war klar, dass ihn das Wissenschaftliche mehr reizte als die Pädagogik. Seine Brötchen verdiente der Bäckersohn dann erst mal weitab von Historie, ganz profan in der Versicherungs-
branche. Bis vor genau zehn Jahren eine Fügung anderes mit ihm vorhatte: Damals noch sehr engagiert im Förderverein Stadtmuseum, sprang er kurzfristig für eine Führung durch die Taunusstraße ein, „mit großem Vergnügen“, und zog von Igstadt dorthin. 2007, im Jahr des Historismus, stieg er tiefer ein, nach dem Motto: „Wenn Wiesbaden kein Stadtmuseum hat, muss man die Stadt zum Museum machen.“

Mit so viel Spaß und Erfolg, dass er sich 2009 unabhängig machte vom Förderverein und seine eigene Firma gründete: „KulTour & Mehr“. Dort ist er Führer, Alleinunterhalter, Organisator, PR-Mann, Kassierer, Buch-
halter, Fotograf und Webmaster in einem. Mit öffentlichen Führungen, Aufträgen von Wiesbaden Marketing und Direktbuchungen von Firmen und Privatleuten sei er sehr gut ausgelastet, ist inzwischen selbst im Rheingau und in Mainz zu Gange.

Mit einer Mischung aus Stolz und Verwunderung blickt er drein, wenn er die Entwicklung Revue passieren lässt. 32 Entdeckertouren bietet er mittlerweile an, jeden Sonntag heften sich meist rund 25 Wissbegierige an seine Fersen, Touristen und Einheimische, laufen mit ihm durch Quellen-, Rheingau- oder Bergkirchenviertel, erkunden Westend, Kai-
ser-Friedrich-Ring, Neroberg oder lassen sich zu den Villen im Dam-
bachtal führen. Da kamen einmal 83 Leute, erzählt Niebergall und wird nachträglich noch mal blass. Aber es sei gut gelaufen, „mit kurz-
zeitiger, kleiner Verkehrsbehinderung“, sagt er verschmitzt.


„Jeder läuft ständig durch und sieht doch nichts“

Gut zu Fuß sollten die Teilnehmer sein, rund zweieinhalb Stunden dauern die Touren. Bei der jüngsten Premiere im Dichterviertel hatte er sich ein bisschen verkalkuliert – und lässt deshalb den Hauptbahnhof künftig weg. Überdenken, verändern, streichen – mit viel Fingerspit-
zengefühl achtet er auf die Reaktionen seiner Gäste, die immer wieder anders sind. Hat er eine neue Idee im Kopf, ruft er sein eigenes Wis-
sen ab, stöbert in Büchern und Archiven, läuft die Strecke mehr-
fach ab – und guckt dabei auch gern nach oben. So mancher Teil-
nehmer wundert sich, was da so alles zu entdecken ist. Wie in der „unbekanntesten Straße der Stadt“, wie Niebergall schmunzelnd sagt: „Kirch- und Langgasse – jeder läuft ständig durch und sieht doch nichts!“ In ganz anderem Licht erscheint die Stadt bei Abendtouren mit Laterne durchs Katzeloch und entlang der Rue mit dem ange-
strahlten Kurhaus – sie gehören zu den Favoriten der Gäste. Niebergall selbst liebt das Bergkirchenviertel – und die Tour „Russland in Wies-
baden“. Auch weil er gern ganz oben ist – auf dem Neroberg.

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