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Fluxus

Reportagen


Alles im Flux

Fluxus, weiß der Lateiner, kommt von „fluere“ und bedeutet „fließen“. Fluxus wählte George Maciunas als Titel für ein geplantes Magazin. Fluxus hat auch eine medizinische Bedeutung, die dem Protagonisten bewusst war. Fluxus, erklärte er Yoko Ono, bedeute „flüssige Entladung, vor allem exzessive Entladung der Gedärme oder anderer Körperteile“. Fluxus um-
fasst
darstellerische, literarische, pantomimische und musische Ausdrucksformen; ist Kunst, Antikunst, Musik, Antimusik, Bewegung, Entschwinden, Spon-
taneität, Aktion, Spaß – Provokation. „Die Irren sind los“ kritzelte ein Besucher auf das Plakat.

Der Protagonist stammte aus Litauen. Mit seiner Fa-
milie floh er vor der Roten Armee und wuchs in Bad Nauheim auf. 1948 emigrierte er in die USA und stu-
dierte Bildende Kunst, Graphik, Architektur und Mu-
sikwissenschaft. Mit Freunden plante er die Grün-
dung eines litauischen Kulturclubs, gemeinsam mit jungen Komponisten aus dem Umfeld von John Cage („Everything we do is music“) entstand daraus der Entwurf eines Magazins. Mit einer IBM Schreibma-
schine machte sich Maciunas an die Arbeit – das Magazin wurde nie veröffentlicht, aber Fluxus war geboren.

Eine gemeinsam mit einem Freund betriebene Galerie erwies sie als finanzielles Desaster – die Konzerte, Ausstellungen und Performances hatten zu wenig Zulauf, um die Galerie zu tragen. Auch um sich vor seinen Gläubigern zu schützen, ging Maciunas im Herbst 1962 als Zivilangestellter und Graphiker zur US Air-Force nach Wiesbaden, nahm Verbindung zur deutschen Avantgarde auf und gründete – Fluxus ist überall – eine Fluxus-Gruppe. Wichtigster Partner war Emmett Williams, der in Darmstadt für eine Armee-Zeitung arbeitete.

1. September 1962: Im Hörsaal des Städtischen Museums startet die auf 14 Konzerte angelegte Reihe „Fluxus – Internationale Festspiele Neuester Musik“ mit Williams, Nam June Paik, Dick Higgins, Wolf Vostell, Karlheinz Stockhausen und John Cage als Teilnehmern. „Partituren“ gibt es nicht, nur Skizzen mit viel Raum für spontane Aktionen. Und so passiert das, was sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: im Rahmen der „Piano Activities“ von Phil Corner zerlegen er, Williams, Dick Higgins, Ben Patterson, Alison Knowles und Wolf Vostell in einer mehrtägigen Aktion einen (nicht allzu wertvollen) Konzertflügel in seine Einzelteile, die anschließend versteigert werden.

Fluxus war die radikalste experimentelle Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts und der zweite große Frontalangriff auf das bürgerliche Kunstverständnis nach dem Dadaismus. Arbeitete der Dadaismus mit „Fundstücken“, so operierte Fluxus mit alltäglichen Handlungen. Im Zentrum stand die kollektive Produktion von Kunstwerken, die nicht vermarktbar sein sollten und vergänglich sein konnten. Eine Forderung, die Joseph Beuys – selbst 1962 an einer Düsseldorfer Flügelzertrümmerung beteiligt – aufnahm und die die Museen dieser Welt vor fast unlösbare Aufgaben stellt.

Im Gegensatz zu Happenings sollte die Trennung von Künstler und Publikum gewahrt bleiben, was nicht immer gelang. Was Maciunas als konkretes Klangmaterial „mit der ganzen ihm innewohnenden klanglichen Vielfarbigkeit“ verstand, war für einige der an herkömmliche musikalische Ausdrucksformen gewöhnten Hörer schlicht Lärm. „Der Ursprung des Skandals“, so Emmett Williams, „waren nicht die verschiedenen Fluxus-Aktionen, sondern vielmehr die Philosophie, die dahinter steckte. Die Idee, dass alles Musik sein kann, ist das überzeugendste und zugleich charakteristischste Merkmal und macht Fluxus zu einer in sich geschlossenen Sache“.

Krankheitshalber aus der Armee entlassen, kehrte Maciunas 1963 nach New York zurück. Fortan stand die Herstellung von Objekten mit (vergänglichem) Open-End-Charakter im Vordergrund. Geplante Flux-Shops für in Masse produzierte Produkte sollten die elitäre Welt der Galerien und Museen umgehen und zudem dafür sorgen, dass einzelne Werke keinen hohen Wert erzielten. Er verfasste Dokumentationen und sammelte Artefakte zur Fluxus-Kunst, die sich nun hauptsächlich in Stuttgart und in Wiesbaden befinden.

50 Jahre nach den Fluxus-Konzerten feiert Wiesbaden die Kunstbewegung, die in der hessischen Landeshauptstadt ihren Ausgang nahm. Der siebte Wiesbadener Kunstsommer steht ganz im Zeichen von Fluxus und ist finanziell üppiger ausgestattet als seine Vorgänger. Ausstellungen wird es geben, Inszenierungen historischer Performances und Workshops. Zeitzeugen und Wegbereiter werden zu Wort kommen. In Zusammenarbeit mit dem Institut für zeitgenössische Musik an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Frankfurt und dem Hessischen Staatstheater zeigt das Landesmuseum eine Ausstellung; vor dem Museum errichtet Ben Petterson, Fluxus-Gründungsmitglied und heute noch in Wiesbaden lebender Künstler, einen interaktiven Fluxus-Pavillon. Am 2. Juni geht es los, dem Vernehmen nach soll auch wieder ein Flügel dran glauben. – Ob sich der Effekt wiederholen lässt? „Wenn man es versteht, ist es zu spät“, meinte Robert Watts.

Rainer Niebergall


Mit leichten Kürzungen abgedruckt in FRIZZ DAS MAGAZIN für Mainz, Wiesbaden und Umgebung, März 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nach Absprache und mit schriftlicher Genehmigung.


Rainer Niebergall – KulTour & Mehr
Stadtführungen, Stadtgeschichte, Planung, Organisation & Management

Mitglied im Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e. V.
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