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Reportagen
Grüne Oase in der Mainzer Neustadt
Als die Franzosen 1814 aus Mainz abzogen, ließen sie eine schwer zerstörte und wirtschaftlich empfindlich geschädigte Stadt zurück. Nach den in Wien getroffenen Vereinbarungen wurde die Stadt mit dem Umland dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt übergeben, die Festung der Verwaltung durch den Deutschen Bund unterstellt. Österreich und Preußen führten abwechselnd das Kommando. Zeitweise befanden sich bis zu 8.000 Soldaten in der Stadt, in der Hauptsache Preußen und Österreicher.
Plan der Festung Mainz 1844
Dass das Militärische dominierte und alle zivilen Belange dem untergeordnet waren, störte die Mainzer zunächst wenig. Die Festung war größter Arbeitgeber der Stadt; Handwerker und Fuhrleute hatten langfristige Aufträge, wenn auch zu ungünstigen Bedingungen. Der Dienstleistungssektor florierte, das Gastwirtschaftsgewerbe brummte. Da die Stadt bis fast ins 19. Jahrhundert hinein weniger Einwohner hatte als in der römischen Zeit, gab es im Stadtgebiet noch freie Flächen, die sogar landwirtschaftlich genutzt wurden – die Wälle und Bastionen wurden noch nicht als drückend und einengend empfunden.
Proviantamt in der Schillerstraße
Die Zustimmung zur Festung bröckelte in dem Maße, in dem die Bevölkerung zunahm und andere Städte sich wirtschaftlich entwickelten. Während das kleine Wiesbaden seit 1840 Eisenbahnanschluss besaß, dauerte es bis 1853, bis Mainz einen eigenen Bahnhof bekam. Der gestiegenen Einwohnerschaft fehlte der Raum zum Leben, dem unternehmerischen Bürgertum die Flächen, um Betriebe gründen und erweitern zu können. Die Schaumweinherstellung von Adam Henkell war über 30 Keller in der Stadt verteilt ohne jede Möglichkeit, die Produktion zusammenzufassen – er wanderte schließlich nach Biebrich ab. Andere Städte prosperierten, die Zustände im Goldenen Mainz wurden zunehmend als „Mainzer Elend“ empfunden.
Bebauungsplan von Eduard Kreyßig
Dabei gab es Flächen, die sich für eine Erweiterung anboten, jenseits der barocken Bastionen – und das war das Problem. Vor der Umwallung durfte keine „permanente“ Bebauung entstehen, war allenfalls Leichtbauweise zugelassen. Wenn ein Konflikt drohte, mussten die Häuser abgerissen werden, damit die Festungsbesatzung freies Schlussfeld besaß und der Gegner keine Deckung fand. Gärten durften angelegt werden – im Gartenfeld.
Eine Lösung zeichnete sich erst ab, als die Festung Mainz nach dem Krieg von 1870/71 in die zweite Reihe gerückt war und die Waffen eine Reichweite und Durchschlagskraft erreichten, denen die barocken Festungswälle nichts entgegenzusetzen hatten. Nach zähen Verhandlungen übergab die Reichsregierung das Gartenfeld einer zivilen Nutzung und ließ sich dies mit 4 Millionen Goldmark bezahlen – wohl oder übel finanzierte die Stadt die militärisch notwendige Modernisierung der Festung.
1867 hatte Stadtbaumeister Eduard Kreißig in Paris den modernen Städtebau des Barons Haussmann studiert und ließ sich vom Pariser Vorbild inspirieren. Obwohl er seine Entwürfe wegen der Anlage des Zentralbahnhofs mehrfach überarbeiten musste, legte er eine Stadtplanung vor, die vorbildlich war in ihrer Zeit. Jenseits der Kaiserstraße entstand um die zentrale Achse der Hindenburgstraße eine Stadtanlage, deren Rasterplan aufgelockert wurde durch Diagonalstraßen. Öffentliche Gebäude setzten Akzente. Quartiersplätze dienten den Bewohnern zum Aufenthalt und zur Erholung: Feldbergplatz, Frauenlobplatz und – der schon 1875 geplante, aber erst um 1900 fertig angelegte Gartenfeldplatz.
Der Gartenfeldplatz in der Neustadt
Wie überall in der Stadt hat der zweite Weltkrieg schwere Wunden geschlagen; später wurden die Stadtplätze vernachlässigt und zweckentfremdet. Umso erfreulicher ist es, dass der Gartenfeldplatz 2009 finanziert durch das Programm „Soziale Stadt in der Neustadt“ neu gestaltet wurde und seinen Charakter als Quartiersplatz zurückerhalten hat. Die Architektur, die den Platz umgibt, lässt noch erahnen, wie es früher hier aussah. Da steht noch eines der frühen Häuser zweigeschossig neben seinem höheren Nachbarn, das folgende Haus mit gotischem Zierrat entwickelt die volle Höhe des gehobenen Wohnungsbaus um 1900. Gegenüber kommt ein stattliches Haus mit Sandsteinfassade in Jugendstilformen daher, während der Nachbar die altertümelnde Note in Klinker mit Turm bevorzugt – eine Marmortafel stammt aus der Zeit, als „Ludwig Lipp Bildhauer“ im Hof seine Werkstatt betrieb.
Am Gartenfeldplatz in Mainz
Ein ehemaliges Trafohäuschen wurde versenkt und dient nun als Sitzgelegenheit; unter prächtigen Bäumen spielen die Kinder. Das Mäuerchen, das den Spielplatz umgibt, ist voll besetzt mit Menschen, die um die Mittagszeit ein Neustadteis („N’Eis“) schlecken. Im Buchladen, der auch ein Café ist, fragt man sich, warum die Dinge, die so gut zusammen passen, nicht öfter miteinander kombiniert werden. Ein urgemütliches Nichts-passt-zusammen-Design hat eine Cafébetreiberin auf der anderen Seite des Platzes geschaffen aus Dingen, die andere Leute weggeworfen haben. In der Mitte des Platzes sitzen die Menschen aus dem Quartier auf den Bänken und unterhalten sich über Gott und die Welt und was sonst noch interessiert. Die junge Frau nebenan liest ein Buch und alle vermitteln das Gefühl, dass man links des Rheins Frankreich ein Stückchen näher ist.
Rainer Niebergall, 2014
Mit leichten Kürzungen abgedruckt in FRIZZ DAS MAGAZIN für Mainz, Wiesbaden und Umgebung, Juni 2014
Nachdruck, auch auszugsweise, gerne nach Absprache und mit schriftlicher Genehmigung.
Rainer Niebergall – KulTour & Mehr
Stadtführungen, Stadtgeschichte, Planung, Organisation & Management
Mitglied im Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e. V.
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